Ein höchst prominenter Safenwiler: Der Theologe Karl Barth

Die Kirche Safenwil ist untrennbar mit einem Namen verbunden: demjenigen von Karl Barth (1886–1968). Dieser hatte von 1911-21 das Safenwiler Pfarramt inne und sollte später als «Kirchenvater des 20. Jahrhunderts» in die Theologie- und Kirchengeschichte eingehen. Seine Zeit in Safenwil war für seine Entwicklung entscheidend. Die Probleme und Konflikte in dieser Zeit prägten ihn für den Rest seines Lebens.

Blick in die Pfarrstube von Safenwil, wo Karl Barth vor über hundert Jahren seinen Kommentar zum Römerbrief des Paulus verfasst hat.

Karl Barth wurde 1886 in Basel geboren. Sein Vater war ein sogenannt «positiver», also ein bibeltreuer Theologe, seine Mutter ebenfalls eine fromme Frau. Die Kindheit verbrachte Barth in Bern, wo sein Vater seit 1891 Theologieprofessor war. Der Sohn entschied sich 1904, ebenfalls Theologie zu studieren und absolvierte seine Studien an den Universitäten Bern, Berlin, Tübingen und Marburg. Barth begeisterte sich im Gegensatz zu seinem konservativen Vater für die liberale Theologie. Nach dem Abschluss seines Studiums 1908 nahm Barth im Jahr 1909 eine Stelle als Hilfsprediger der deutschsprachigen Gemeinde in Genf an, wo er seine spätere Frau Nelly Hoffmann kennenlernte. Im Jahr 1911 übernahm Barth sein erstes und einziges volles Pfarramt – in Safenwil. Er kam als begeisterter Vertreter der liberalen Theologie – und ging als deren profiliertester Kritiker und Vertreter einer neuen Art, Theologie zu betreiben: als dialektische Theologie.

Um Barths radikalen Gesinnungswechsel zu verstehen, muss man den geistesgeschichtlichen Kontext, also vor allem die «liberale Theologie» näher betrachten. Diese bis heute einflussreiche Art, Theologie zu betreiben, entstand in der Zeit um 1800 als Reaktion auf die Aufklärung und die Romantik. Sie umfasste inhaltlich vielfältige Ansätze von Personen wie Friedrich Schleiermacher, Adolf von Harnack oder Ernst Troeltsch. Allen Entwürfen gemeinsam sind zwei Punkte: Erstens wird Religion als integral zum wahren Menschsein Gehörendes verstanden («religiöses Apriori»). Bei Schleiermacher etwa ist Religion «das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit», das allem menschlichen Wissen und Tun vorausgeht. Neuere liberale Ansätze greifen meist auf «menschliche Grunderfahrungen» zurück. Zweitens wird postuliert, dass die eigene Religion bzw. Konfession die allgemein menschliche Religion am besten verwirkliche. Schleiermacher zeigte, dass es Glaubensgemeinschaften braucht, in denen das religiöse Gefühl stetig und vollkommen aktiv ist, damit der Mensch sein eigenes religiöses Gefühl leben kann, und dass das evangelische Christentum dessen beste historische Ausformung ist. Neuere Ansätze betonen häufig die «Modernität» oder «Zeitgemässheit» der liberalen Theologie und Kirche. Barth lebte hundert Jahre nach dem Aufkommen der liberalen Theologie. In dieser Zeit zeigten sich bereits einige Schwierigkeiten dieser theologischen Richtung.

In seiner Zeit in Safenwil beschäftigte sich Barth vor allem mit drei Gesichtspunkten: Ein Problem der liberalen Theologie liegt darin, dass sie, um Religion als zum Menschen gehörig bestimmen zu können, ein möglichst allgemeines Menschenbild («Anthropologie») voraussetzen muss. Es kann also nur philosophischen, nicht aber religiösen oder theologischen Charakter haben. Die Theologie kann dann je nach Interpretation nur eine historisch gewachsene, mythisch-symbolische Ausformung einer bestimmten Philosophie sein. Der Glaube an Gott ist dann nur eine Hilfe, um wirklich Mensch zu werden: Gott wird ersetzbar durch das Ideal des Menschen und somit eigentlich überflüssig. Diese Argumentationsfigur nennt man «atheistische Kritik» und ist mit Namen wie Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud verbunden. Karl Barth war ein Zeitgenosse einiger grosser atheistischer Denker und hat deren Werke zu einem grossen Teil gekannt. Sein eigener Neuansatz nahm diese Kritik auf und ebnete sogar den Weg zu einer positiven Begegnung mit ihr.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus dem Ansatz der liberalen Theologie bei einer Fähigkeit, Möglichkeit oder einem Gefühl des Menschen. Dadurch wird Religion zwar formal, aber nur wenig inhaltlich bestimmt, auch weil religiöse Schriften oder theologische Konzeptionen nur als historische, nicht aber als normative Gedanken betrachtet werden können. Die liberale Theologie, wie sie Karl Barth kennengelernt hatte, bietet nur wenige Ressourcen, um kritisch mit der Gesellschaftsordnung umzugehen.

Barth begegnete in Safenwil der harten Wirklichkeit des Arbeiterlebens zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Probleme wie lange Arbeitszeiten, schlechte Arbeitsbedingungen, kleine Löhne, Alkoholismus und so weiter beschäftigten ihn. Seine bisherige theologische Orientierung bot ihm keine Möglichkeit, diese Probleme in Predigt und Seelsorge aufzunehmen und zu behandeln. Über Eduard Thurneysen, seinen engen Vertrauten und Pfarrkollegen aus Leutwil, kam er mit einer Gegenbewegung zur liberalen Theologie in Kontakt, dem «Religiösen Sozialismus». Diese im Wesentlichen von Leonhard Ragaz, Hermann Kutter und Christoph Blumhardt geprägte Bewegung sah im Sozialismus und in den politischen Bestrebungen der Sozialdemokratischen Partei das aufkeimende Gottesreich, wie es in der Bibel verheissen worden war. Karl Barth bekannte sich bald zu dieser neuen Bewegung und trat 1915 der Sozialdemokratischen Partei bei. Er setzte sich nun in Predigt und Politik für die Rechte der Arbeiter ein. Er förderte Gewerkschaften, liess sich auf Konflikte mit Industriellen ein (auch und gerade mit der Familie Hüssy, welche bei der Gründung der Kirchgemeinde entscheidend mitgeholfen hat) und nahm sogar an Streiks teil. Im weiteren führte er als Schulpflegepräsident den Sportunterricht für Mädchen ein, bekämpfte als Präsident des Blauen Kreuzes den Alkoholismus und engagierte sich als kritischer Parlamentarier in der Synode der Aargauer Landeskirche. Damit machte er sich nicht nur Freunde. Einige reiche Gemeindeglieder traten aus Protest gegen ihn aus der Kirche aus und gründeten eine Freikirche. Barth begegnete dem Sozialismus sein Leben lang mit Sympathie. Er sah allerdings, dass im Religiösen Sozialismus genauso wie in der liberalen Theologie eine Philosophie die Theologie bestimmt.

Die Urkatastrophe für Barths Denken war und blieb jedoch der Erste Weltkrieg. Die Kirchen in Deutschland sowie die meisten Theologen unterstützten diesen den Krieg grundsätzlich. Das galt auch für die meisten politischen Parteien von den Konservativen über die Liberalen bis zu den Sozialisten. Barth war angesichts dieser Tatsache völlig desillusioniert. In der liberalen Theologie sah er eine Ursache dieser Entwicklung, da sie wegen ihrer Zurückhaltung gegenüber konkreten Inhalten nur wenige Ressourcen für einen kritischen Umgang mit dem politischen Geschehen bot. Halt gab ihm die Idee des «Gottesreichs», das jenseits aller menschlichen Möglichkeiten und Erfahrungen steht. In der Zeit von 1916 bis 1918 legte Barth den neutestamentlichen Römerbrief aus und veröffentlichte seinen Kommentar im Jahr 1919. Darin präsentierte er einen theologischen Neueinsatz: Gott ist der «ganz andere», welcher dem Menschen und allen seinen Werken, seien sie noch so kreativ oder religiös, gegenübersteht. Der Mensch kann Gott nicht selber erreichen, sondern es ist Gott, der in seiner Offenbarung in Jesus Christus die Kluft zwischen ihm und dem Menschen überwindet. In Jesus Christus handelt Gott an der Welt. Er sagt Ja zur Welt, verneint dadurch aber ihr vorfindliches Dasein. Er durchbricht alle menschlichen Erfahrungen und Handlungen, indem er in Jesus Christus spricht. Der Mensch kann das Wort Gottes somit nur in Jesus Christus empfangen, der in der Bibel bezeugt ist. Was er dabei gewinnt, ist jedoch eine menschliche Interpretation, die wiederum am Wort Gottes zu messen ist. Karl Barth hat damit eine Theologie entwickelt, die nicht mehr vom Menschen, sondern von der Selbstoffenbarung Gottes her denkt und deshalb gegenüber der menschlichen Gesellschaft und Politik kritisch ist. Man nennt sie auch «dialektische Theologie». In den Jahren 1920-21 überarbeitete Barth seinen «Römerbriefkommentar»; 1922 kam eine zweite Auflage heraus, die sich direkt mit dem geistesgeschichtlichen Umfeld wie Sozialismus, Liberalismus und Religionskritik auseinandersetzte.

Barth hatte zu diesem Zeitpunkt Safenwil bereits verlassen. Er war so bekannt geworden, dass ihn die Universität Göttingen 1921 auf einen Lehrstuhl berief. Er siedelte deshalb nach Deutschland über, wo er bis 1935 blieb. In dieser Zeit wehrte er sich gegen den aufkommenden Nationalsozialismus und dessen zunehmenden Einfluss auf die Kirche. Er war Mitbegründer der Bekennenden Kirche und Mitverfasser von deren Grundlagendokument, der «Barmer Theologischen Erklärung» (1934). Viele Christen sahen sich durch ihn zum Widerstand bewogen und unterstützt. Dazu gehört auch Dietrich Bonhoeffer (1906–1945). 1935 wurde Barth aus Deutschland ausgewiesen und übernahm einen Lehrstuhl an der Universität Basel, wo er bis 1962 wirkte. Seine dogmatischen Vorlesungen gab er ab 1932 unter dem Titel «Kirchliche Dogmatik» heraus. Dieses schliesslich dreizehn Bände umfassende Werk sollte sein Hauptwerk werden.

Karl Barth starb 1968 in Basel.

Das Karl Barth-Archiv in Basel beherbergt Barths literarischen Nachlass und seine komplett erhaltene Bibliothek. Es befindet sich an seinem letzten Wohnsitz in Basel. Auf dem Internetauftritt des Karl Barth-Archivs finden sich viele weitere Informationen zum Archiv und zu Arbeit von Karl Barth.