Pfadiübung im Kirchturm

«Die Pfadiübung fand Ende der 1960er Jahre statt und ist keine Legende, sondern wirklich passiert. Das kam so: Die damaligen Gruppenführer des Stamms Wiking waren eine Zeit lang nicht sehr aktiv, der Betrieb kriselte ein bisschen. Ich fand das nicht so toll, wo ich doch selber voller Ideen war, was man alles machen könnte. Der damalige Stammführer schlug deshalb vor, ich könnte ja für die Gruppe Schwan – obwohl ich erst das zweite Jahr bei den Pfadi war – eine Übung organisieren. Antreten war – wie immer – vor der reformierten Kirche in Unterkulm. Als alle versammelt waren, kam der Dorfpolizist zu uns herüber (der Polizeiposten befand sich damals gleich gegenüber der Kirche an der Kreuzung) und händigte uns einen Brief aus, in dem wir gefragt wurden, ob wir die Polizei bei der Aufklärung eines Raubüberfalls unterstützen möchten. Ich hatte dies vorher mit dem Polizisten abgesprochen, hatte mir vorgestellt, er würde diese Anfrage mündlich ausrichten und staunte nicht schlecht, als er uns ein Schreiben mit dem offiziellen Briefkopf und einem Stempel der Polizei übergab. Das war der Auftakt zu einer Detektivübung mit vielen Stationen.

Die erste Station befand sich am Waldrand Richtung Böhler. Der Polizist hatte uns geschrieben, sie hätten dort verdächtige Spuren gefunden. Also nichts wie los. Von dort führte die Spur wieder ins Dorf zurück. Wo überall noch Hinweise zu finden waren, die ich vorher versteckt hatte, weiss ich nicht mehr. Aber eine Station werde ich nicht vergessen. Sie befand sich zuoberst im Kirchturm, bei den Glocken. Man muss dazu wissen, dass die Türe zum Turm damals nicht verschlossen war. Und da ich als Pfarrerssohn schon öfter dort oben gewesen war, dachte ich mir nichts Weiteres dabei.

Doch gab es mit diesem Posten ein Problem. Als wir zuoberst im Turm ankamen, war die Nachricht, die ich an einer der Glocken angebracht hatte, nicht mehr dort. Vermutlich hatte sie der Sigrist entdeckt und entfernt. Was tun? Um die Übung zu retten, musste ich irgendwie eingreifen. Ich gab mich deshalb vor meiner Gruppe als der Bösewicht, nach dem sie suchten, zu erkennen und sprang fort. Die ganze Gruppe natürlich hinter mir her. So ging es von Etage zu Etage den Turm hinunter, über die steilen Treppen, die eigentlich nicht gerade geeignet sind für eine Verfolgungsjagd. Unten angekommen, stürmten wir zum Kirchturm hinaus und rannten um die Kirche herum, bis ich irgendwann geschnappt wurde.

Am Abend musste ich zu Hause – nicht vorwurfsvoll, aber doch deutlich – hören, unsere Übung habe schon ein bisschen gestört. Dass zur gleichen Zeit mein Vater in der Kirche ein Hochzeitspaar traute, konnte ich nicht wissen.»

Johannes Stückelberger

Erinnerungen an die Entdeckung der Fresken

Nachdem an der Berner Disputation 1528 beschlossen worden war, dass sämtliches Bildwerk aus den Kirchen «abgetan» werden müsse, erfasste der Bildersturm auch die Kirche Kulm. Ich kann mir gut vorstellen, wie das Chor mit den damals bereits zweihundertjährigen Fresken eingerüstet wurde, und wie die Handwerker mit ihren Pickeln hunderte von Löchern in die Wände und das Gewölbe schlugen, die einen lustvoll, die andern mit schlechtem Gewissen. Und dann wurden die so geschändeten Fresken mit einem Putz überzogen, der sie für die nächsten 440 Jahre den Blicken der Kirchenbesucher entzog.

Bei der Renovation um 1900 wurde der alte Putz abgeschlagen und erneuert. Die Fresken kamen zum Vorschein, doch man fand, sie seien wertlos. Nur der damalige Pfarrer Eppler erkannte wohl ihren Wert, liess er doch im letzten Moment noch grobe Umrisspausen anfertigen, die er dem Landesmuseum Zürich anvertraute, wo sie heute noch liegen. Wie gut, dass man die Fresken nicht restaurierte. Die damalige Restaurationspraxis steckte noch in den Kinderschuhen.

1967/68 drängte sich eine Totalrenovation der Kirche auf. Weil ich damals zugleich Präsident der Kirchenpflege und der Baukommission war, wurde sie mir zum Herzensanliegen. Was die Fresken betrifft: Mehrere Sondierungen im Chor liessen erahnen, dass unter dem Putz bedeutende Fresken vorhanden waren. Die Denkmalpflege betreute den erfahrenen Restaurator Wilhelm Kress mit der Aufgabe, den Putz zu entfernen und die Fresken nach den neusten Erkenntnissen zu restaurieren.

Ich hatte gerade Sommerferien und interessierte mich brennend für diese Arbeit. Herr Kress akzeptierte mich gerne als «Assistenten», und so war ich mit ihm von Anfang an auf dem Gerüst, ausgerüstet mit hölzernem Spachtel und Holzhammer. Mit grösster Sorgfalt wurde Stück für Stück des Putzes abgelöst. Das war äusserst spannend. Ich erinnere mich, wie ich an der Südseite des Gewölbes arbeitete. Zum Vorschein kam ein Kreuzbalken und eine Hand, und als nächstes: noch eine Hand. Eine Kreuzabnahme? Es war gerade Mittagszeit, aber ich dachte nicht ans Aufhören, es war zu spannend. Meine Familie ass ohne mich zu Mittag. Stunden später war das Rätsel gelöst: Es war ein «Gnadenstuhl», Gott Vater auf einer Bank sitzend, das Kreuz mit dem Jesus vor sich, das er am Querbalken links und rechts mit seinen Händen stützt, - seine Hände neben den Händen Jesu.

So ging das weiter, eine Überraschung nach der andern. Der arme Bartholomäus wurde nicht nur lebendig geschunden, als Freskenfigur musste er auch noch die Pickelhiebe ertragen, und wohl seit 1900 zerschnitt eine elektrische Leitung seinen Leib von unten nach oben. Und warum ist der Schwanz des Johannes-Adlers lilienförmig? Aha! Die Grafen von Thierstein hatten eine Lilie im Wappen! Sie waren ja mit den Pfeffingern zusammen die Stifter der Fresken. So haben sie sich diskret verewigt.

Ebenso die Pfeffinger: ihr gleicharmiges Kreuz im Wappen ist mehrfach dekoratives Element im unteren Querfries. Die Schlaumeier! Daneben kniet ein Stifter auch wieder demütig und bescheiden links unten an der Südwand.

Die Thierstein-Pfeffinger waren eng verbunden mit dem Kloster Säckingen, das seinerseits bedeutende Ländereien im Land Glarus besass, deshalb wollten sie auch an prominenter Stelle (links des Chor-Mittelfensters) ihren verehrten Fridolin platziert sehen. Diese Darstellung ist die älteste des Heiligen in der Schweiz. Er führt das Skelett des Ursus, den er aus seinem Grab heraufgeholt hat, als Zeuge in einem Erbstreit vor den Richter. Recht makaber. Nach meinen Erkundigungen gibt es nicht einmal im Land Glarus eine so alte Darstellung des Fridolin. Die Glarner können auf Kulm eifersüchtig sein. Zur Rechten des Fensters teilt Martin, der Kirchenpatron, hoch zu Pferd seinen Mantel und reicht die Hälfte einem Bettler. Bei der Freilegung der Nordwand kam eine wunderschöne, im manessischen Stil gemalte Marienkrönung zum Vorschein. Bei der Besichtigung äusserte Pfarrer Stückelberger mit kummervoller Miene seine grössten Bedenken. «Daas isch halt scho sehr ghatoolisch in ere reformierte Ghiile.» Da brachte der Kirchenpfleger B. die rettende Lösung: «Herr Pfarrer, es heisst doch i der Bible irgendwo: ‘Der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.’ Also, Gott krönt eus alli, jede Einzelne. D Maria empfoot halt di Krönig stellverträtend für alli Mönsche.» Und Pfarrer Stückelberger strahlte: «Herr B., Si händ rächt, so chanis au verstoh!» Einmal betrachtete ich das Chor-Mittelfenster. Über dem Spitzbogen das weisse Lamm, Symbol für Christus, darüber Christus als Weltenherrscher «Majestas Domini.» Dann zählte ich, weiss nicht, warum, die Rosetten, die links und rechts das Fenster säumen; beidseits 26, zusammen 52. Ich wurde stutzig. 52, das ist die Symbolzahl für Jesu, auch von J.S. Bach in mehreren Kantaten musikalisch dargestellt. Vielleicht verweisen Skeptiker diesen Gedanken ins Reich der Spekulation, aber mir gefällt er: Jesus dreifach dargestellt: Figürlich als Weltenherrscher, bildsymbolisch als Lamm, zahlensymbolisch mit der Zahl 52.

Nachdem das ganze Kircheninnere vom Putz befreit war, entdeckte ein Arbeiter (nicht der Architekt, auch nicht der Denkmalpfleger oder sonst jemand) in der Mauer links des Chorbogens eine «verdächtige» Stelle. Er bekam den Auftrag, sie zu untersuchen. Und was kam zum Vorschein: die Nische mit der Kreuzigung Jesu, traditionell links Maria, rechts Johannes; über dem Kreuz Sonne und Mond, Johannes umsäumt von 11 Sternen, Maria von 7; über ihrem Kopf 3, hinter ihr 4; links am Fuss des Kreuzes ein einzelner Stern. Die bildsymbolische Deutung ist naheliegend: Sonne, Mond und Sterne: Christus hat universale, ja kosmische Bedeutung. Die 11 Sterne um Johannes: die 11 getreuen Jünger, der 12., Judas, erscheint als separater Stern, abgetrennt von den 11 anderen, links neben dem Kreuzesfuss. Über dem Kopf der Maria 3 Sterne, Symbol für die himmlische Dreifaltigkeit, hinter ihrem Rücken 4 Sterne, Symbol für alles Irdische. Zusammen 7, für «Alles in Allem». Bemerkenswert ist noch die Tatsache, dass Jesus von Pickelschlägen verschont worden ist. Der Arbeiter hatte zu grosse Ehrfurcht vor dieser Gestalt.

Abschliessend darf ich sagen, dass ich bis heute glücklich und dankbar bin, bei der Entdeckung dieser über den Kanton hinaus bedeutenden Fresken aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts mit dabei gewesen zu sein.

Wilhelm Kress restaurierte sie vorbildlich, begleitet vom Denkmalpfleger Dr. Peter Felder.

Ernst Weber