Die abenteuerliche Geschichte der «Mondsichelmadonna»

(…) Es ist Anfang September im Jahr 2001, als ein junger Franzose in Uerkheim haltmacht. Ausgerechnet in Uerkheim. Einem Dorf, das auch kaum ein Aargauer kennt. Doch der Elsässer geht zielstrebig die 52 Treppenstufen zur Kirche hinauf. Die Tür zur Kirche ist unüblicherweise verschlossen. Der Mann hat damit gerechnet.

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Der Fremde in der Kirche will die Glasgemälde weder bestaunen noch fotografieren. Er ist gekommen, um eines davon mitzunehmen. Der Mann heisst Stéphane Breitwieser und hat in den vergangenen zehn Jahren in ganz Europa über 300 Kunstwerke gestohlen.

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Die Uerkner Kirche ist klein, auch ihr Eingang ist es. Breitwieser bückt sich, um sich den Kopf nicht zu stossen. Drinnen ist es still und kühl. Vorne im Chor sieht er sie, die fünf Glasgemälde. Das Wertvollste ist die Madonna. «Mein Herz schlägt wie wild, nicht nur wegen der Gefahr, sondern wegen des Werkes, das ich bald besitzen werde», beschreibt Breitwieser später den Moment vor einem Diebstahl.

Er nähert sich der Madonna, will sehen, wie das 45 Zentimeter hohe und 36 Zentimeter breite Gemälde am Fenster befestigt ist. Um die Schrauben zu lösen, braucht er einen Schraubenzieher. Er verlässt die Kirche und holt im Auto das benötigte Werkzeug. Wieder zurück im Gotteshaus steigt er auf die Armlehnen der hölzernen Chorbank, um an die Madonna heranzukommen.

Hätte in diesem Moment ein Uerkner unten auf der Hinterwilerstrasse seinen Blick zur Kirche gehoben, er hätte die Umrisse des Mannes gesehen, der die Madonna aus der Halterung schraubt. Doch niemand schaut hinauf und Breitwieser verschwindet mit dem Glasgemälde.

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Er will es nicht verkaufen. Wie all die anderen gestohlenen Kunstschätze wird auch die Uerkner Madonna sein Zimmer schmücken. Sie wird Teil seiner Sammlung werden. Von seinem Himmelbett aus wird er sie bestaunen und sich daran berauschen.

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Zwei Monate nach dem Diebstahl in Uerkheim begeht Breitwieser einen Fehler. Er stiehlt im Richard-Wagner- Museum in Luzern, kehrt an den Tatort zurück und wird verhaftet. Es dauert eine Weile, bis der Polizei klar ist, wer ihr da ins Netz gegangen ist.

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Von 1991 bis 2001 raubt er so Kunstschätze im Wert von über 20 Millionen Franken. Darunter Meisterwerke von Lucas Cranach, Pieter Brueghel und Albrecht Dürer. Leiten lässt er sich von seinem Geschmack. «Ich hätte auch einen Monet oder Degas stehlen können. Aber ich mag die Bilder dieser Maler nicht so sehr», sagt er später in einem Interview.

Nach Breitwiesers Verhaftung in Luzern kehrt seine Freundin Catherine, die ihn oft begleitet, sofort ins Elsass zurück und informiert Breitwiesers Mutter. Was dann geschieht, ist ein Akt von Mutterliebe und Dummheit: Breitwiesers Mutter gerät in Panik. Sie vernichtet die gesamten Kunstschätze ihres Sohns. Einen Teil wirft sie in den Müll. Den anderen in den Rhein-Rhône-Kanal.

Eine Woche später spaziert ein Rentner dem Ufer dieses Kanals entlang und fischt ein Horn, einen Dolch und Pokale aus dem Wasser. Er meldet seinen Fund der Polizei. Sofort wird der Kanal von Soldaten abgesucht: Sie bergen 110 Kunstgegenstände. Und die Uerkner, die staunen nicht schlecht, als auch ihre Madonna aus dem Kanal gefischt wird. Leider ist das Gemälde zerbrochen.

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In Uerkheim versucht man nun, die Glasscheibe zurückzubekommen, will wissen, ob sie noch zu retten ist. Briefe wechseln die Grenze. Der damalige Aargauer Denkmalpfleger Jürg Andrea Bossardt erkundigt sich immer wieder nach dem Glasgemälde. Dann endlich gibt es gute Nachrichten: Am 25. März 2010 setzt sich Bossardt ins Auto Richtung Colmar. Alles klappt reibungslos.

Am gleichen Tag kehrt die zerbrochene Madonna zurück in die Schweiz. Obwohl mit Gesicht und Jesuskind die wichtigsten Fragmente des Gemäldes fehlen, setzt sich die Denkmalpflege für eine Restauration ein. 2013 ist es so weit, der Kanton spricht die benötigten 6500 Franken.

In Luzern arbeitet die Glasmalerin Sandra Wanner während 100 Stunden daran, das Glasgemälde wiederherzustellen. Sie verklebt die Bruchstellen mit Epoxidharz und malt das Gesicht von Madonna und Jesuskind neu. Das Schwierigste sei es gewesen den Gesichtsausdruck der Madonna wieder hinzubekommen, sagt sie.

Noch befindet sich das Glasgemälde in Luzern. Doch die Tage bis zur Rückkehr sind gezählt: Am 3. Advent [2013] feiern die Uerkner die Rückkehr ihrer Madonna mit einem feierlichen Gottesdienst.

Auszüge aus einem Text von Aline Wüst in der «Aargauer Zeitung vom 9. November 2013.