«Wir brauchen kein Lokal für Temperenzler, Abstinenzler und Stündeler...»

Die Kontroverse um den Abbruch der alten Kirche lässt, so absurd es klingt, tief in die Oberflächlichkeit und Naivität menschlicher Seelen blicken. Die sorgfältigen Archivaufarbeitungen der Ortsgeschichte geben gut kommentiert wieder, wie die Menschen damals unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und der Arbeitslosigkeit im Dorf agierten und debattierten. Als der Obmann des Heimatschutzes, der Kantonsschullehrer Weibel 1921, mit der Gemeinde das Gespräch suchte, konnte er nur von «wütendem Gebaren» der Kanzlei sowie (ganz und gar im sarkastischen Sinne) von der «persönlichen Liebeswürdigkeit des temperamentvollen Gemeindeschreibers» berichten. Die Konsequenz war, dass der Heimatschutz nur noch auf amtlichem Weg über eine Einsprache den Abbruch zu verhindern suchte. Aber die Haltung der Gemeindemehrheit, verkörpert durch den überlieferten Ausspruch eines Ratsmitglieds «Was gehen uns denn diese dummen Bilder an?» war einstweilen stärker als die warnenden Stimmen der Fachleute. Stattdessen zirkulierten im Dorf seitens der ärmeren und bildungsferneren Schichten hasserfüllte Parolen gegen die damals modischen und eher bürgerlicheren sozialreformerischen Tugendbewegungen: «Man brauche kein Lokal für Temperenzler, Abstinenzler, Blaukreuzler, Hoffnungsbündler, Stündeler, Sektierer, religiöse Schwärmer, Mütterversammlungen, Vorträge, Blaukreuzchor und -musik, Heimatschützler und Freunde der alten Kirche. Man wisse schon, dass in der neuen Kirche nur die Reichen Hochzeiten und Taufen abhalten würden, indessen dazu für die Armen das alte verlotterte Kirchlein gut genug wäre!»

Eingedenk dieser Worte verwundert es nicht mehr, dass die Feinde der alten Kirche mit unlauteren Warnungen Schrecken verbreiteten. Geldnot wurde ins Feld geführt, obwohl am Ende der Kredit für den Neubau um 6000 Franken unterschritten wurde und zusammen mit grosszügigen Beiträgen für die Restaurierung der alten Kirche hätte aufgewendet werden können. Auch das Argument, der Bauschutt der alten Kirche würde für den Neubau dringend benötigt, bedeutete eine Einsparung von gerade mal 500 Franken.

Reizvoller als diese etwas beschämende Kurzsichtigkeit sind die Zweckbehauptungen und Deutungen der Bevölkerung zu gewissen Tatsachen: Die Freunde der alten Kirche etwa fanden, die Toten auf dem nahegelegenen Friedhof müssten sich im Fall eines Verschwindens der alten Kirche im Grabe umdrehen, während die Verfechter des Abbruchs ins Feld führten, dass sich die Toten gerade über den Neubau freuen würden. In der Neujahrsnacht 1921 zersprang zu alledem noch die älteste Glocke, und der nunmehr scheppernde Klang wurde – wie es andernorts häufig und bereits aus dem Mittelalter bezeugt ist – sofort als göttlicher Fingerzeig gedeutet: Einige ältere Dorfbewohner fürchteten durch dieses Missgeschick ein drohendes Unheil und warnten vor Strafen Gottes, die im Falle eines Kirchenabbruchs über das Dorf kommen würden.