Sektensüchtig oder einfach nur fromm?

Es ist eine bekannte Tatsache, dass in den südlichen Tälern des ehemaligen Berner Aargaus schon während der Reformationszeit Täufer anzutreffen waren. Nach anfänglichen Versuchen Berns, auch diese radikalen (man könnte auch sagen konsequenten) «Kinder der Reformation» nach 1528 in ihr Staatskirchentum einzugliedern, begann die Verfolgung der Taufgesinnten, weil sie elementare Vorgaben der bernischen Landesherrschaft nicht akzeptieren wollten, so z.B. die Kindertaufe, die strikte Trennung von Kirche und Staat, die Militärpflicht, den Untertaneneid, die Steuerpflicht usf.

Auch die Bevölkerung der ehemaligen Herrschaft Rued (Ruedertal, Leerau) sei in einem «für die Schweiz recht auffälligen Grad Anhängerin mancher Sonder- oder Freikirche – ja sogar sektensüchtig oder sektenfromm» vermeldete noch vor wenigen Jahrzehnten die Landeskunde des Aargaus (Tschopp).

In einer Kundschaft über das Täuferwesen erhielt der Berner Rat im September 1538 aus dem Aargau Bescheid, dass in «Lerouw [und] Rued» viele Täufer vorhanden seien, die sich aber zur Zeit «im Lucernerpiett» aufhielten, doch diese Nachbarn würden nichts gegen sie unternehmen. Die Täufer beschimpften die Pfarrer («schälten Predicanten»). Ein Arzt in Beromünster, der selber taufgesinnt sei, habe diesen geholfen. Erstmals vernehmen wir nun auch von den «Löchern in den Hüsern, darin sy sich verbärgen», also den noch heute ab und zu in alten Emmentaler Bauernhäuser (z.B. in Hüttengraben, Gd. Trueb) vorhandene Verstecken, wo die Täufer bei Gefahr Zuflucht fanden. Eine weitere gute Taktik den Häschern zu entkommen, ist ebenfalls in der eben erwähnten Quelle von 1538 erwähnt. Im Grenzgebiet zwischen Bern und Luzern konnten die Verfolgten nämlich einfach die Grenze überqueren und abwarten, bis sich die Verfolger zurückzogen, um dann wieder auf ihren meist abgelegenen Hof zurückzukehren.

Neben der Verfolgung der Täufer begann Bern im 16. Jahrhundert damit, die Taufen in jeder Kirchgemeinde durch Prädikanten aufzeichnen zu lassen. So war später jederzeit klar, ob ein Kind die Taufe bereits empfangen hatte. Dies belegen die beiden abgebildeten Beispiele aus dem Leerauer Taufrodel von 1589.

Auch im weiteren Verlauf der Berner Zeit tauchen immer wieder täuferische Familien auf. Dies kann durchaus als Beleg dafür gelten, dass diese Menschen mit der gelebten reformierten Kirche nach bernischem Muster aus eigener Überzeugung (oder veranlasst durch charismatische Prediger) nicht zufrieden waren. Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert fanden viele Gläubige den Weg in eine neue kirchliche Gemeinschaft, die Chrischona-Gemeinde. Bereist 1875 wohnte ein Prediger in Leerau. Seit 1925 existiert hier eine Chrischona-Kapelle.

Die in der Bundesverfassung garantierte Religionsfreiheit ist eine vergleichsweise junge Erfindung. Bis zum Ende der Berner Zeit gab es keine erlaubte Möglichkeit, im bernischen Herrschaftsgebiet einen anderen als den reformierten Glauben bernischer Prägung auszuüben. Deshalb musste beipielsweise im Jahr 1597 die Ehefrau von Hans Baumberger aus Leerau, die von der täuferischen Lehre «nit abstahn und zur Kirchen gahn» wollte, das Land verlassen. Dies ist aus heutiger Sicht nur schwer zu verstehen, war aber in der frühen Neuzeit gängige Praxis in allen Herrschaftsgebieten.

Täufer im Leerauer Taufrodel. Im unteren Beispiel wird klar, dass für die Obrigkeit vor allem die Taufe wichtig war, während die Eheschliessung eine eher untergeordnete Rolle spielte.