Zwei Schriftsteller – zwei tragische Schicksale

Der Kirchberg besteht aus einem markant über der Aare gelegenen architektonischen Gesamtensemble: die spätgotische Kirche aus dem frühen 16. Jahrhundert, der alte Friedhof und das klassizistische Pfarrhaus aus dem Jahr 1844 mit einem wild-verwunschenen Garten. Interessant – und sehr besonders – ist, dass das Pfarrhaus auf dem Kirchberg zeitweise Wohn- und Arbeitsort von zwei berühmten Schweizer Schriftstellern war: Paul Haller (1882–1920) und Hermann Burger (1942–1989).

Das verwunschene Pfarrhaus auf dem Kirchberg – Wohn- und Arbeitsort zweier berühmter Schweizer Schriftsteller

Der Pfarrerssohn Paul Haller aus Brugg studierte Theologie und trat 1906 seine erste Pfarrstelle auf dem Kirchberg an, die er 1910 aufgab, um ein Germanistikstudium zu absolvieren. Später war er in Schiers GR als Mittelschullehrer tätig. Bekannt ist sein Epos «'s Juramareili» und das Drama «Marie und Robert». Dass er seine Werke in Mundart verfasste, täuschte lange über deren hohe Qualität hinweg, die sich durch einen melancholischen Grundton und dunkle Musikalität auszeichnet; heute wird Haller mit Robert Walser verglichen.

2007 wurde sein Werk unter dem poetischen Titel «So dunkelschwarzi Auge» neu aufgelegt, und ein Dokumentarfilm gleichen Namens machte 2010 ein breiteres Publikum mit diesem tiefgründigen Dichter bekannt, dessen Leben tragisch durch Freitod endete.

Ein Paul Haller-Abend «Aber Schmützli git‘s ekäis!»

Der Komponist Stephan Hunziker, der sich bereits seit über zwanzig Jahren mit Haller-Texten auseinandersetzt, hat dessen Mundartgedichte vertont. Mit dem Gitarristen Benno Ernst, der Pianistin und Sängerin Liliane Gubler und dem Schauspieler Michael Wolf brachte er die Gedichte zur Aufführung.
Ein zentrales Element dieses Zyklus’ bildete der jeweilige Ort, an dem gespielt wurde. Es sind Stationen auf dem Lebensweg Hallers.
Durch die Musik, die gesungenen und gelesenen Texte von und über Haller und die ausgesuchten Orte entstand ein dicht gewobenes Netz, welches eine sinnliche, vielschichtige Annäherung an den Dichter Paul Haller ermöglichte.

Flyer des Paul Haller-Abends vom 17. August 2013 in der Stadtkirche Aarau PDF, 1260 KB)

Hermann Burger wurde 9142 in Menziken geboren, studierte Germanistik und war als Publizist und Privatdozent für Literatur an der ETH Zürich tätig. Berühmt wurde er 1976 mit seinem Erstling «Schilten», es folgten literarische Erfolge wie «Die künstliche Mutter», «Diabelli», «Ein Mann aus Wörtern» und «Brenner». Burger brilliert in seinem Werk als hochartifizieller Wortakrobat mit einem Hang zum Morbiden und Skurrilen, der keinerlei Scheu davor hatte, seine stupende Bildung auszubreiten; er gab sich als Dandy mit edlen Zigarren, einem roten Ferrari und präsentierte sich gerne auch als Zauberkünstler.

Burger lebte mit seiner Familie seit 1972 im Pfarrhaus auf dem Kirchberg, wo er sich in den ersten Jahren sehr mit seinem Dichter-Vorgänger Paul Haller, mit dessen Lebenssuche und Faszination an der vom Kirchberg aus sichtbaren Flusslandschaft identifizierte. 1980 erschien der Gedichtband «Kirchberger Idyllen». Als die Kirchgemeinde das Pfarrhaus wieder für sich beanspruchte, kam es zu langen und erbitterten Auseinandersetzungen, die 1982 mit dem Auszug Burgers endeten. In seiner neuen, noch herrschaftlicheren Bleibe, dem Gärtnerhaus auf Schloss Brunegg, nahm er literarische Rache an der Kirchgemeinde Kirchberg mit der genial-furiosen Erzählung, die sich im Titel auf die fast gleichnamige Novelle von Conrad Ferdinand Meyer bezieht und diesen doch entscheidend verändert: «Der Schuss auf die Kanzel».

Der Kirchberg spielte in Burgers Leben und Werk trotz – oder gerade wegen – der unschönen Begleittöne eine zentrale Rolle. Hier einige Zeilen aus den «Kirchberger Idyllen»:

Tagelang hüllt sich der Kirchberger Hügel im Spätherbst in Nebel,
Aaretalabwärts steigt Flussrauchen auf ins Gebirg.
Wandle sinnend im gräulichen Mantel von Grabstein zu Grabstein,
Schwedischer Marmor zuhauf, Bibelsprüche als Trost.
(aus dem Gedicht «Nebelkirche»)

In den «Kirchberger Idyllen» wird Haller mehrfach namentlich genannt, so etwa im Gedicht «Pfarrhaus-Estrich»:
Habe hier Hallers Gedichte gefunden, den violetten Pappband,
Erstausgabe, vergilbt, aufgeschnitten bis «Nacht»

Burger muss sich mit Haller in vielem seelenverwandt gefühlt haben. Dessen Mundartgedicht «Z Nacht» war für Burger «das schönste Fluss-Gedicht»:

Schwarz gropet d Nacht dr Aare noh,
Käis Stärndli schickt e Haiteri.
S mues jeden äinischt s Läbe loh
Und usem Licht a d Feischteri.

War es die düster-melancholische Nachtstimmung, mit der das Gedicht beginnt, die ihn faszinierte? Er nahm Anteil an Hallers Schicksal – vielleicht sein eigenes vorausahnend?

Auch Burgers Leben endete durch Freitod.

Referat von Barbara Tobler anlässlich der Generalversammlung der Bürgerlichen Vereinigung Biberstein BVB auf dem Kirchberg vom 28. März 2014:
«Der Kirchberg: Geschichte und Geschichten zu einem ganz besonderen Ort» (PDF, 85 KB)

Literatur zu Paul Haller

  • Weitere Informationen zu Paul Haller sind auf einem eigenen Internetauftritt zu finden.
  • Paul Haller: so dunkelschwarzi Auge. Neuausgabe der Werke. Baden 2007.
  • Dunkelschwarzi Auge – der Dichter Paul Haller: Ein preisgekrönter Dokumentarfilm von Franziska Schlienger, 2010 Zürcher Hochschule der Künste.

Hermann Burger (Publikationen zum Kirchberg)

  • Herrmann Burger, Kirchberger Idyllen, Frankfurt am Main 1980.
  • Herrmann Burger, Der Schuss auf die Kanzel, Zürich 1988.

Über Hermannn Burger

  • Claudia Storz: Burgers Kindheiten. Eine Annäherung an Hermann Burger, Zürich 1996.Markus Bundi, Klaus Isele (hg.): Salü, Hermann. In memoriam Hermann Burger. Eggingen 2009.
  • Franziska Kolp (hg.): Hermann Burger. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA), Heft 23, 2007.
  • Markus Bundi, Klaus Isele (hg.): Salü, Hermann. In memoriam Hermann Burger. Eggingen 2009.
  • Magnus Wieland, Simon Zumsteg (hg.): Hermann Burger – zur zwanzigsten Wiederkehr seines Todestages, Zürich 2010.

Über Haller, Burger und weitere Aargauer Schriftsteller

  • Fridolin Stähli und Peter Gros , «Unter der Nüsperli-Linde, am schönsten Plätzchen des Aargaus»: Ein Blick in die Literatur des Kulturkantons», erschienen in der Beilage der Aargauerzeitung, 16. Juni 2003.