Der Brugger Glockenstreit

Vor dem Brugger Kirchgemeindehaus, nahe an der Stadtmauer steht heute eine Glocke. Friedlich zeigt sie sich den Besuchern und lädt zum Entdecken von Inschriften und den Figuren der vier Evangelisten ein. Der Weg, den sie bis zu diesem Platz zurückgelegt hat, war jedoch lang und konfliktreich. Die Glocke stammt aus dem Jahr 1670 und wurde von Heinrich Füessli in Zürich gegossen.

Die Glocke von 1670 vor dem Kirchgemeindehaus

Ihre Umschrift lautet: «Ruefet die Gmeind zusamen lobet des Herren Namen. Anno Domini 1672.» Sie ist 1412 Kilogramm schwer, 126 Zentimeter gross und klingt im Ton f'. Sie war vom 17. Jahrhundert an Teil des Brugger Geläutes.

Detailansicht der Glocke

Im Jahr 1924 war die reformierte Kirchgemeinde Brugg nicht mehr zufrieden mit ihrem Geläut. Es schnitt im Vergleich zum damals moderneren der katholischen Kirche schlecht ab. Deshalb entschied man sich für die Elektrifizierung des Geläutes und wollte bei dieser Gelegenheit drei Glocken hinzukaufen und eine alte ersetzen. Dies betraf eben die f'-Glocke. Die Kirchgemeinde plante, sie einzuschmelzen, wofür die Glockengiesserei Rüetschi in Aarau einen Betrag von 2965.20 Franken bezahlt hätte. Von diesem Vorhaben waren nicht alle Gemeindeglieder im selben Mass begeistert und es formierte sich eine Widerstandsbewegung. An der Spitze standen der ehemalige Direktor von Königsfelden, Leopold Frölich, und Dr. Ernst Laur.

Die beiden Intellektuellen sahen die Lösung in einer Geldsammlung zugunsten der Erhaltung der Glocke. Bis zum Jahr 1925 brachten sie 2135 Franken zusammen. Die Kirchgemeindeversammlung beschloss deshalb, die Glocke zu behalten und einen Platz für sie zu finden, um sie aufzustellen. Dies war noch nicht geschehen, als sich eine Alternative anbot. Der Reformierte Kirchenbauverein Wohlen fragte an, ob er diese Glocke in der reformierten Kirche Wohlen, deren Bau im selben Jahr begonnen hatte, nutzen darf. Die Kirchgemeinde Brugg überliess den Wohlern die Glocke als Leihgabe. Am 4. September 1925 wurde sie nach Wohlen transportiert und sofort aufgezogen. Dort blieb die Glocke sieben Jahre lang.

Selbst während ihrer Abwesenheit sorgte die Glocke für Konfliktpotential. Dr. Frölich behauptete nämlich, dass der Spruch der Schaffhauser Schillerglocke («Vivos voco, mortuos plango, fulgura frango», zu Deutsch: «Ich rufe die Lebenden, ich beklage die Toten, ich breche die Blitze») sich in veränderter Form («defunctos plango» statt «mortuos plango», zu Deutsch etwa: «ich beklage die Verstorbenen» statt «ich beklage die Toten») auch auf der f'-Glocke befände, während der Brugger Pfarrer Viktor Jahn dies bestritt. Der Wohler Pfarrer Schweigler beendete diesen Streit, indem er selber zum Glockenturm hinaufstieg und die Glocke untersuchte. Das Resultat war, dass die Glocke den betreffenden Spruch nicht aufweist. Damit war dieser Streit entschieden.

Im Jahr 1932 beschlossen die Wohler, eigene Glocken zu beschaffen. Die Brugger Glocke durfte nun wieder nachhause zurückkehren. Kurz darauf wurde die Glocke noch einmal zum Politikum. Im Jahr 1938 erhielt Brugg ein Angebot einer reformierten Kirchgemeinde aus Österreich. Diese hätte die Glocke gerne übernommen, doch die Brugger Kirchgemeinde lehnte ab. Einerseits waren politische Gründe im Spiel, denn im selben Jahr wurde Österreich von Nazideutschland besetzt und schloss sich dem Deutschen Reich an, andererseits war der von Frölich und Laur gesammelte Betrag für das Aufstellen der Glocke in Brugg bestimmt, sodass man die Glocke in der eigenen Stadt behalten wollte.

Für die Glocke wurde ein Sockel unter dem Turm errichtet, wo sie heute noch steht und jenes Geläut jederzeit hören kann, dem sie selber einmal angehört hat.