«Sehet die Vögel – sehet die Lilien» von Gian Casty

Das Fenster im Chor der Kirche Murgenthal stammt vom Engadiner Künstler Gian Casty (1914–1979) und trägt den Titel «Sehet die Vögel – sehet die Lilien» (nach Matthäus 6,26.28). Es hat die Masse 267x65 cm und ist 1965 entstanden.

Das vom Engadiner Künstler Gian Casty 1965 gestaltete Fenster in der Kirche Murgenthal

Der Künstler

Gian Casty wurde 1914 in Zuoz geboren und machte zuerst eine Lehre als Flach- und Dekorationsmaler in Chur, dann folgten künstlerische Ausbildungen in Basel und Paris (Académie de la Grande Chaumière); dazu gehörte auch eine Ausbildung in Glasmalerei. Ab 1943 lebte er als freier Künstler; ab 1948 schuf er fast ausschliesslich Glasmalereien.

1941, 1952, 1967 schuf der inzwischen in Basel lebende, aber immer mit seiner Engadiner Heimat verbundene Künstler Sgraffiti an vier Häusern in seinem Heimatdorf Zuoz, in dem sich das von ihm umgebaute Elternhaus befand und in das er jedes Jahr mit seiner Familie für eine gewissen Zeit zurückkehrte. Er ist auch dort begraben.

Gian Casty, beeinflusst von Vincent van Gogh und Paul Gauguin und in seinem Frühwerk geprägt vom Spätimpressionismus, suchte früh nach Möglichkeiten einer zeichenhaften Bildgestaltung mit klar abgegrenzten Flächen auch eine der Grundkonstanten der klassischen Glasmalerei.

Ein erster öffentlicher Auftrag (1951) für eine Glasmalerei in einem Schulhaus in Basel war der Beginn seiner Karriere als Glaskünstler. Dabei liess er sich – wie viele andere Glaskünstler auch – von den Fenstern der gotischen Kathedralen von Chartres und Bourges aus dem 12. und 13. Jahrhundert inspirieren. Auch seine Faszination an der Farbe, am Leuchten konnte er später in diesem künstlerischen Medium ausleben. Als gelernter Glashandwerker gestaltete er nicht nur die Entwürfe seiner Glasmalereien, sondern führte sie bis zur Fertigstellung stets eigenhändig aus; er liebte Glas und, als hervorragender Handwerker, das Experimentieren mit diesem Material und seinen technischen Möglichkeiten. Dabei verwendete er sogenanntes «Antikglas», das im Gegensatz zum modernen Industrieglas nicht glatt ist, sondern Unregelmässigkeiten in Dicke und Glasqualität wie Einschlüsse, kleine Unebenheiten aufweist.

Sein glaskünstlerisches Werk zeichnet sich durch starke Expressivität, leuchtende Farben und bewusste Reduzierung der Bildinhalte aus.

Zwischen 1948 bis zu seinem Tod im Jahre 1979 gestaltete Gian Casty über 350 Einzelscheiben für Private, öffentliche Institutionen sowie Fenster für über vierzig Sakral- und Profanbauten, mehrheitlich in der Region Basel und in Graubünden.

Zu Gian Castys Bezug zum Religiösen und zu seinen biblischen Bildthemen hat sein langjähriger Freund, der Engadiner Künstler Gian Pedretti (*1926), in einer persönliche Erinnerung an den vor über 30 Jahre zuvor verstorbenen Freund folgendes geschrieben:
«In seinem Atelier, im Alban-Stift, sah ich Gian Casty oft über der aufgeschlagenen Bibel sitzend lesen. Darin suchte der Maler nach Szenen, welche ihn anregen würden sie in seine Bild-Sprache zu übertragen. Versenkt wie ein Mönch über das Buch gebeugt, bewegen sich im Lesen still seine Lippen.
Einmal, wir waren ganz allein unterwegs, früh am Morgen, eröffnet er mir Sein Crédo: ich habe alle Verhaltensweisen ausprobiert...., aber Eins sage ich dir:
was da geschrieben steht, in der Bibel, ist wahr,Sechs Tage sollst Du arbeiten und am siebenten sollst Du ruhen. So wie ich es selber erfahren hab, so gestalte ich mein Alltagsleben. » (Typoskript von 2010, aus: Wismer, Seite 30)

Farblich fallen die leuchtenden Blau- und Türkistöne in vielen seiner Fenster auf. Beispiele hierfür sind die Chorfenster in der reformierten St. Georgskirche in Scuol (1972) oder in der reformierten Kirche in Küsnacht, die Gian Casty 1970 gestaltete, dies bewusst im Gegensatz und dennoch harmonisch zum vorgegebenen gotischen Rahmen und den darunterliegenden Fresken aus der Entstehungszeit der Kirche passend, die in warmen Ocker-, Rot- und Grautönen gehalten sind.

Der spätgotische Chor der reformierten Kirche Küsnacht mit den Fresken von 1482 und den Chorfenstern von Gian Casty (1970) mit folgenden Themen: die Taufe Jesu durch Johannes, die Auferstehung (zentrales Fenster) und Jesus im Garten Gethsemane
Foto © Barbara Tobler 2014

Einer der letzten Aufträge Gian Castys war das kleine Fenster «Das himmlische Jerusalem» (1979) in der Apsis der ersten, karolinigischen Pfarrkirche Sogn Pieder in Domat/Ems. Auch dieses Werk besticht durch seine leuchtenden Blau- und Türkistöne. Eine kunsthistorisch-theologische Würdigung findet sich im 2020 erschienenen Kunstführer «Sakrallandschaft Domat/Ems» der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK.

Weitere Werke der sakralen Glasmalerei von Gian Casty

  • Reformierte Kirche, Balgach
  • Reformierte Johanneskirche, Bischofszell
  • Reformierte Stadtkirche Diessenhofen
  • Schlosskirche, Grüningen
  • Reformierte Kirche Jürgenhaus, Küsnacht
  • Reformierte Kirche, St. Moritz-Bad
  • Reformierte Kirche, Pratteln
  • Reformierte Kirche, Schwyz
  • Reformierte Kirche St. Georg, Scuol
  • Dorfkirche San Luzi, Zuoz
  • Kapelle San Bastiaun, Zuoz

2011/12 widmete das Vitromusée in Romont Gian Casty eine umfassende Einzelausstellung. Gleichzeitig erschien die Publikation von Ulrich Wismer, «Glasmaler Gian Casty: Aus dem Dunkeln leuchten» (2011). Die Fotografien zum Gesamtwerk von Gian Castys Glasmalerei in diesem Band hat der Fotograf Hans Fischer erstellt.

«Sehet die Vögel – sehet die Lilien» für die Kirche Murgenthal Auch die Glasmalerei von Gian Casty für die Kirche in Murgenthal wird von der Farbe Blau dominiert.

Für die Realisierung eines farbigen Fensters zog die Kirchenbaukommission Murgenthal 1963 die drei Künstler Willy Fries (1907–1980), Felix Hoffmann (1911–1975) und Gian Casty in Erwägung. Dabei favorisierte der Architekt der Kirche, Benedikt Huber, von Anfang an Gian Casty und lobte dessen Kunst, «in satten und leuchtenden Farben zu malen». Zudem hatte er Kenntnis vom Umstand, dass Gian Casty kurz zuvor erfolglos an einem Wettbewerb zur Gestaltung eines Kirchenfensters (Zollikerberg) teilgenommen hatte. Es waren nicht zuletzt finanzielle Erwägungen, dass die Baukommission den Architekten beauftragte, mit Gian Casty Kontakt aufzunehmen. Nach einer ersten Besprechung erhielt der Künstler am 17. Dezember 1963 den Auftrag, einen Entwurf anzufertigen. Als Honorar waren 700 Franken vorgesehen. Damit wurde ausdrücklich auf die beschränkten Mittel der Kirchgemeinde Rücksicht genommen. Das Thema des Fensters wurde in Absprache mit dem amtierenden Pfarrer Konrad Maurer vereinbart.

Im Juni 1964 legte Gian Casty einen Entwurf im Massstab 1:1 vor. In der Folge besuchte die Baukommission den Künstler in seinem Atelier in Basel, um bereits ausgeführte Glasmalereien zu besichtigen.

Zeitgleich arbeitete Gian Casty an einem Auftrag für das damalige Alters- und Pflegeheim in Chur-Masans (heute: Seniorenzentrum CADONAU). Es ist interessant, dass der Künstler für beide Aufträge Varianten desselben Stoffes aus dem Matthäus-Evangelium wählte: «Sehet die Vögel des Himmels an! Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?» (Mt 6,26) und «Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen! Sie arbeiten nicht und spinnen nicht.» (Mt 6,28) In seiner Arbeitsdokumentation bezeichnete er beide Werke mit dem gleichen Titel: «Sehet die Vögel – sehet die Lilien».

Es ist nicht klar, für welchen der beiden Aufträge Gian Casty diesen Arbeitstitel zuerst wählte, jedoch lässt angesichts des sehr bescheidenen Honorars in Murgenthal und der Heimatverbundenheit des Künstlers «der nähere innere Bezug» eher auf das Werk in Chur-Masans schliessen, das im Herbst 1965 nach Chur gebracht und dort gelötet wurde.

«Einzigartig an den Fenstern von Chur-Masans und Murgenthal sind jedoch die zusätzlichen, weitgehenden Übereinstimmungen in formeller und farblicher Hinsicht, sodass hier von eigentlichen Zwillingsversionen gesprochen werden kann.»

Farblich sind die beiden Glasmalereien tatsächlich sehr ähnlich gestaltet, wobei in der Scheibe von Chur-Masans die Farbe Rot – in Murgenthal in den Schnäbeln der Vögel zu sehen völlig fehlt, zudem misst sie, im Gegensatz zum schmalen, hochrechteckigen Fenster in Murgenthal, 167x130 cm.

Interessant ist, dass in der Vereinbarung zwischen der Baukommission des Alters- und Pflegeheims Chur-Masans und Gian Casty ursprünglich ein Werk in Rot festgelegt worden war – aber der Künstler präsentierte dem überraschten Präsidenten der Stiftung in seinem Basler Atelier schliesslich einen Entwurf ganz in Blau: «Dem Präsidenten verblieb, diesen Entscheid stillschweigend zu akzeptieren. Er eilte zurück nach Chur, wo er den Kollegen empfahl, dem Entwurf ihren Segen zu erteilen.» Ein weiterer bemerkenswerter Punkt ist das Honorar, das um 17'000 Franken betrug – also um ein Vielfaches höher als für das sehr vergleichbare Fenster in Murgenthal! Ob Gian Casty dabei eine Art Mischrechnung gemacht hat? Der erwähnte Churer Stiftungspräsident hat später dazu geschrieben: «Die Abwicklung dieses Kunstgeschäftes war ein Sonderfall und verlief ohne bürokratische Abmachungen. Einen CASTY zu besitzen, darf die Evangelische Alterssiedlung mit Stolz und Freude erfüllen.»

Im Fenster von Murgenthal ist das eigentliche Vogel- und Lilienthema im oberen Bildteil dargestellt, und zwar in einer hochovalen Form, die an die Mandorlaform denken lässt, darin harmonisch eingebunden die drei weissen Vögel und die weisse Lilie mit zwei Stengeln. Die grundsätzliche Schwierigkeit in der bildenden Kunst, zwei Objekte (hier: die beiden Lilienstengel) ausgewogen und harmonisch zu organisieren, hat der Künstler gelöst, indem er den linken, grösseren Stengel hochaufgerichtet und den kleineren rechten Stengel in Bogenform dargestellt hat, unter der einer der Vögel sich aufschwingt. Darüber erhebt sich der grösste der Vögel, dazwischen, auf der rechten Seite findet sich der kleinste, der auf den Vogel im Zentrum zufliegt. Somit ergibt sich mit drei Vögeln und zwei Lilienstengeln die Fünferzahl der gezeigten Bildobjekte, die sich harmonisch miteinander verbinden und einander ergänzen. Die Komposition wirkt durch die Vögel in Flugbewegung organisch und gleichzeitig, durch die ovale Einfassung, abgerundet und in sich ruhend.

«Sehet die Vögel – sehet die Lilien»: oberer Bildausschnitt
Foto © Ulrich Wismer

Das Weiss, der leuchtend rote Schnabel des grössten Vogels und die beiden gleichermassen leuchtenden, gelben Glasteile über dem grösseren Lilienstengel – Stempel der Lilie, Lichtpunkte, Sterne? –, eingebunden in die stehende, dreidimensional wirkende Ovalform, leuchten aus dem Hintergrund in verschiedenen Blautönen. Das Ganze wirkt wie ein Bild im Bild: eine Art vertikale «Brosche», eingelassen in den abstrahiertem Hintergrund. Dieser ist ebenfalls blau und besteht aus grossen, vertikalen, im Gegensatz zu dem Bildthema statisch und zweidimensional wirkenden Glasbahnen. Auch letztere tragen, zusammen mit der transzendenten Farbe Blau, zum ruhigen und harmonischen Gesamteindruck dieses Fensters bei.

Gian Casty arbeitete mit den klassischen Bleiruten und nutzte das Bleinetz als Mittel einer bewussten zusätzlichen Möglichkeit, ein Werk nicht nur malerisch, mit den farbigen Glasteilen, sondern auch grafisch zu gestalten. Dies lässt sich beim Fenster in Murgenthal sehr gut erkennen.

Leider ist das Fenster in der Kirche Murgenthal das einzige Werk von Gian Casty in einer Aargauer Kirche.

Die Zitate sind dem erwähnten Werk von Ulrich Wismer, «Glasmaler Gian Casty: Aus dem Dunkeln leuchten» (2011) entnommen.

© Text verfasst von Barbara Tobler

Die Castys, denen Gian Casty entstammte, sind eine alte Bündner Familie mit Bürgerrecht in Trin im Bezirk Imboden. Auch die Verfasserin hat dort Wurzeln durch eine direkte Vorfahrin, Menga Casty aus Trin. 1821 heiratete sie in der reformierten Kirche Tamins Johann Georg Sausele, eingewandert aus Mergentheim (Baden-Württemberg) und eingebürgert in Wergenstein oberhalb von Zillis im Schams. Die Nachkommen der Folgegenerationen hiessen Johannes/Johann/Hans/Gian, Jakob/Jacob/Giacomo, Georg/Gieri/Giorgio und Barbara. Die Verfasserin trägt den weiblichen Stammbaumnamen nach dieser Familientradition. Eines der acht Kinder des Ehepaares Sausele-Casty war Maria Barbara Tobler-Sausele aus Tamins, ihrerseits die Grossmutter des Churer Architekten Hans Tobler, dem Grossvater der Verfasserin.