Glasmalerei

Der Plan, die Stadtkirche Lenzburg mit farbigen Chorfenstern auszustatten, bestand bereits seit den Zwanzigerjahren, als der Lenzburger Apotheker und Kirchgemeindemitglied Ernst Jahn zum Gedenken an seinen frühverstorbenen Sohn ein Fenster stiften wollte. Entwürfe des Lenzbürger Künstlers Werner Büchli hierfür kamen jedoch nicht zur Ausführung, vermutlich weil Büchlis Vorschläge weitergehende Umgestaltungen des gesamten Kirchenraumes beinhalteten, die als «unreformiert» empfunden wurden. Büchli wurde 1934 von der Kirchenpflege dahingehend informiert, sollte aber weitere Entwürfe für ein Fenster vorlegen, welche ebenfalls nicht weiterverfolgt wurden, da im gleichen Jahr eine vom Vorhaben Jahns unabhängige Schenkung gemacht wurde, und zwar vom Lenzburger Industriellen Jeannot Hämmerli, der 2000 Schweizer Franken stiftete. In Absprache mit dessen Sohn, dem Arzt Viktor Hämmerli, machte dieser 1935 das Anerbieten, «zwei Fenster neben der Kanzel auf der Stirnseite der Kirche [...] mit kostbaren Glasgemälden zu schmücken». Zusammen mit seinem Bruder stellte Viktor Hämmerli eine grössere Summe aus der Erbschaft seines Vaters in Aussicht. Im April 1937 legte die Kirchenpflege Lenzburg die Entwürfe des Berner Malers, Graphikers und Zeichners Paul Zehnder (1884–1973), der Bürger von Suhr war. Die Entwürfe wurden ausgeführt, nachdem die Kirchenpflege jeden weiteren Schmuck der Stadtkirche (ein Anliegen von Ernst Jahn und dem von ihm favorisierten Werner Büchli) dezidiert zurückgewiesen hatte. Die beiden neuen Chorfenster wurden am Bettag 1938 eingeweiht.

Ausschnitt aus dem rechten Fenster (unterste Szene): Der Einzug in Jerusalem

Die Stifter allerdings blieben damals auf eigenen Wunsch anonym, und das Geheimnis wurde erst siebzig Jahr später gelüftet.

Der Künstler Paul Zehnder wurde in Dresden, München und Stuttgart, von 1909 bis 1914 in Paris. In seinem späteren Werk gestaltete er vor allem religiöse Themen. Mehrere Aufträge für reformierte Kirchen im Kanton Bern. Sein grösster Auftrag war ein Freskenzyklus für die Stadtkirche Winterthur (1924), die umfangreichste sakrale Malerei in der Schweiz. Seit den Dreissigerjahren beschäftigte sich Paul Zehnder, der als Maler begonnen hatte, zunehmend mit Glasmalerei. Er arbeitete mit dem Berner Glasmaler Louis Halter zusammen. Zwischen 1925 und 1970 entstanden gegen 40 Aufträge für Glasmalereien für Kirchen, vor allem im Kanton Bern, so etwa Kirchenfenster in der Kirche Frutigen (1940), die Chorfenster der Schlosskirche in Interlaken (1950–63), die Kirchenfenster in Ins und der Zyklus in Kirchberg BE (1955).

Paul Zehnder blieb künstlerisch im Gegenständlichen und orientierte sich an der mittelalterlichen Glaskunst Frankreichs. So hat er es auch für die Stadtkirche Lenzburg gehalten, und die Fenster präsentieren sich formal mit Einzelszenen, die wie gotischen Medaillons wirken; auch im Kolorit ordnen sich die Farben dem gotischen Zweiklang von Rot und Blau unter.

Beide Fenster sind gleich aufgebaut und enthalten je vier Einzelszenen, die oben von Dekorationen im Halbrund des Bogenfensters abgeschlossen werden.

Das linke Fenster zeigt von unten nach oben folgende Szenen aus dem Leben Jesu: die Geburt, die Flucht nach Ägypten, die Taufe am Jordan und die Verklärung auf dem Berg Tabor. Das rechte Fenster zeigt von unten nach oben vier Szenen aus der Passion Jesu: der Einzug in Jerusalem, Jesus und die schlafenden Jünger im Garten Gethsemane, die Kreuzigung und zuoberst die trauernden Frauen am leeren Grab und zwei Engel.

Die Signaturen lauten:
Rechtes Chorfenster: PAUL ZEHNDER / ANNO DOMINI / 1938 /
Linkes Chorfenster: PAUL ZEHNDER / ANNO DOMINI 1938 /

Das linke Fenster mit Szenen aus dem Leben Jesu

Das rechte Fenster mit Szenen aus der Passionsgeschichte

Bemerkenswert im Bildprogramm ist dies: Während die ersteren drei Szenen des linken und alle vier Szenen des rechten Fenster der üblichen Ikonographie für das Leben und Leiden Jesu entsprechen, wird in der obersten Szene im linken Fenster eine eher überraschende Darstellung gezeigt: die Verklärung auf dem Berg Tabor, von der in den Evangelien des Lukas, Markus und Matthäus berichtet wird. Der Auferstandene erscheint zwischen den alttestamentlichen Propheten Mose mit den Zehn Geboten (links) und Elijah (rechts). Überraschend ist diese Szene insofern, als sie in der westlichen Sakralkunst vergleichsweise selten dargestellt wird, im Gegensatz zur ostkirchlichen Tradition, innerhalb derer sie eines der häufigsten Motive ist. Das Fest der Verklärung (am 6. August) wird in der Ostkirche mit grossen Festlichkeiten gefeiert.

Die Verklärung auf dem Berg Tabor: der Auferstandene zwischen Mose und Elija

Die Parallelszene im rechten Fenster sind die trauernden Frauen am leeren Grab und die zwei Engel, die ihnen erscheinen. Das Verbindende der beiden Szenen ist das überirdische Licht, das der Auferstandene (links) und die beiden Engel (rechts) ausstrahlen. Auf dem Berg Tabor ist dieses Licht (das sogenannte «Taborlicht») so überwältigend, dass es die drei anwesenden Apostel Petrus, Jakobus und Johannes zu Boden wirft. Dies wird hier nicht dargestellt, in der orthodoxen Bildtradition hingegen ist die Darstellung eines Berges, von dem die drei Apostel stürzen, gleichsam kanonisiert.

Auch das Erscheinen der zwei Männer/Engel vor dem leeren Grab (nach Lukas, bei Markus und Matthäus ist es nur ein Engel) muss überwältigend gewesen sein: «Am ersten Tag der Woche aber kamen sie noch im Morgengrauen zum Grab und brachten die wohlriechenden Öle mit, die sie zubereitet hatten. Da fanden sie den Stein weggewälzt vom Grab. Als sie aber hineingingen, fanden sie den Leichnam des Herrn Jesus nicht. Und es geschah, während sie ratlos dastanden, dass auf einmal zwei Männer in blitzendem Gewand zu ihnen traten. Voller Furcht neigten sie das Gesicht zur Erde, und die Männer sagten zu ihnen: Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?» (Lukas 24,1-5) Bei Matthäus wird nur ein Engel erwähnt, und das Überwältigende des seiner Erscheinung wird so beschrieben: «Seine Erscheinung war wie ein Blitz und sein Gewand weiss wie Schnee.» (Matthäus 28,3), der die Frauen bestürzt und die Wächter vor Angst erzittern lässt.

In beiden Parallelszenen des linken und rechten Fensters geht es also um das «mysterium tremendum» (nach Paul Tillich) einer Erscheinung, die Menschen buchstäblich zu Boden stürzen lässt – beide Szenen nicht zufällig zuoberst und somit sowohl Krönung als auch Abschluss der beiden Fenster.

Die trauernden Frauen am leeren Grab mit der Erscheinung der zwei Engel

Ein Beitrag von 2011 in «Berner Zeitschrift für Geschichte» mit dem Titel «Fundstück: der Künstler am Werk : Paul ‹Pablo› Zehnder» zeigt ein Foto (vermutlich aus dem Jahre 1938), das den Künstler zusammen mit dem Glasmaler Louis Halter vor einem Teil des rechten Fensters in Lenzburg zeigt. Es handelt sich um die Kreuzigungsszene und die beiden Panneaux darunter (den oberen Teil der Szene im Garten Gethsemane).

Ein weiterer Spross der Hämmerli-Dynastie von Lenzburg und direkter Nachfahre von Jeannot Hämmerli, ist ebenfalls als Mäzen in die Stadtgeschichte eingegangen. Es ist Dr. Urs Peter Hämmerli, Mediziner auch er: und der bekannte frühere Chefarzt des Triemli-Spitals in Zürich, der seine kostbare Sammlung an russischen Ikonen, die er zwischen 1971 und 1984 zusammengetragen hatte, dem Museum Burghalde schenkte. Die Sammlung umfasst 65 Werke aus der Zeit des 16. bis 19. Jahrhunderts; sie zeigt neben Darstellungen von Christus und der Gottesmutter auch verschiedene Heilige. Damit wird ein breites Spektrum ostkirchlicher Kunst abgedeckt. Die Sammlung ist die einzige permanent gezeigte Ikonenausstellung in der Schweiz. 1999 entstanden aus dem ehemaligen Weinkeller des Museums Räumlichkeiten für diese neue Sammlung, die von der georgischen Kunsthistorikerin, Byzantinistin und Ikonenexpertin Nina Gamsachurdia betreut wurde. Im März 2002 konnte die Ikonensammlung im Museum Burghalde feierlich eingeweiht werden.

Fotos © Dani Schranz / AVENUE.CH, Lenzburg