Impressionen in Grau, Grisaille und Gold

Im November 2010 habe ich die Kirche in Gränichen erstmals besucht, weil ich zufällig in der Gegend war: Ein unfreundlicher, kalter und regnerischer Nachmittag, Grau in Grau. Auch die Kirche in Grau: grauer Sandstein, im Innern dunkelgrau. Auf die Idee, das Licht einzuschalten, bin ich damals nicht gekommen. Der Innenraum: Ein schlichtes Rechteck als Grundriss, schlichtes Holz in Vertäfelung, Chorgestühl und Kirchenbänken. Weissfenster, die sechs farbigen Kabinettscheiben von im Dämmerlicht kaum erkennbar, die Wänden bedeckt mit den feinen Grisaillemalereien, für die die Kirche Gränichen berühmt ist. Ich habe mich auf eine der vorderen Kirchenbänke gesetzt und versucht, trotz der Düsternis einen Eindruck zu bekommen. Der Moment des Erkennens, das Aha-Erlebnis jedoch blieb aus und musste über den Verstand geleistet werden: Das ist jetzt also eines der prominentesten Beispiele für den strengen, aus Frankreich beeinflussten hugenottischen Stil, für einen «Predigtsaal» im besten Sinn. Kaum eine innere Regung, stattdessen eine gewisse Ratlosigkeit. Und Frieren. Ich erlebte damals nur eine Impression in Grisaille und Grau. Grau in Grau wie jener dunkle Regennachmittag. Fast auf den Tag genau ein Jahr später: Ein zweiter Besuch der Kirche Gränichen, diesmal anlässlich des Gottesdienstes zum Reformationssonntag am 6. November 2011, zu dem mich eine Gränicher Freundin eingeladen hatte. Welch ein Unterschied! Vor dem Portal begrüsste der Pfarrer die Ankommenden feierlich mit Handschlag, die Kirche füllte sich rasch bis auf den letzten Platz. Ein Festgottesdienst, auch mit viel Musik: Vivaldis «Magnificat» RV 610. «Magnificat anima mea Dominum, et exsultavit spiritus meus in Deo salvatore meo.»

Psalmkartusche in Grisaillemalerei und Kronleuchter

Das Zusammenspiel von Wort und Musik – und dann vor allem das Licht, das die Kirche erfüllte: Prachtvolle, barock anmutende zwölfflammige Kronleuchter, die mich seltsamerweise sofort an eine Synagoge denken liessen. Plötzlich war die Kirche lebendig geworden, die wundervollen Grisaillemalereien leuchteten auf und offenbarten ihre ganze Schönheit und Feinheit, Musik ertönte, es wurde gesungen und gebetet. Ein Fest für Augen, Ohren, das Herz und die Seele. In dieser Stunde ging mir auf, was «Nicht nur Steine!» bedeutet: Die Menschen sind es, die gesprochenen Worte, die Predigt, die Gebete, der Gesang der vertrauten Kirchenlieder, die festliche Musik, die Lichter, die eine Kirche mit Leben füllen, lebendig machen. Nicht nur Steine! An diesem Morgen wurde die Kirche Gränichen zum Festsaal, in jeder Hinsicht.

Kaum zuhause, habe ich in einem Buch über Synagogenarchitektur nach diesen barocken Leuchtern gesucht und wurde nach kurzer Zeit fündig: Die Portugiesische Synagoge in Amsterdam. Eingeweiht 1674 – nur 11 Jahre nach der Einweihung der reformierten Kirche Gränichen.

Der Architekt, der Ende der Siebzigerjahre die Gesamtrenovation geleitet hatte, erzählte, wie damals diese Leuchter ausgewählt wurden und wie sie sich gegenüber einer zweiten Leuchtervariante durchsetzen konnten, nämlich auf der Stelle, einfach durch das Nebeneinanderstellen. Es sind schlichte Industrieleuchter – und dennoch vermochten sie an diesem besonderen Gottesdienst im November 2011 dem einfachen Längsraum Glanz zu verleihen, die Grisaillemalereien in feinsten Grautönen begannen aus sich heraus zu leuchten, wurden plastisch, dreidimensional, lebendig – ein unvergleichliches Erlebnis, eine eindrucksvolle Impression auf so vielen Ebenen in Klang, Grisaille und Gold.

© Barbara Tobler

  1. Juni 2013