Die Geschichte vom verlorenen Sohn

Lukas 15,11-24: 11 Und er sprach: Ein Mann hatte zwei Söhne.
12 Und der jüngere von ihnen sagte zum Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zusteht. Da teilte er alles, was er hatte, unter ihnen.
13 Wenige Tage danach machte der jüngere Sohn alles zu Geld und zog in ein fernes Land. Dort lebte er in Saus und Braus und verschleuderte sein Vermögen.
14 Als er aber alles aufgebraucht hatte, kam eine schwere Hungersnot über jenes Land, und er geriet in Not.
15 Da ging er und hängte sich an einen der Bürger jenes Landes, der schickte ihn auf seine Felder, die Schweine zu hüten.
16 Und er wäre zufrieden gewesen, sich den Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Schweine frassen, doch niemand gab ihm davon.
17 Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot in Hülle und Fülle, ich aber komme hier vor Hunger um.
18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.
19 Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen; stelle mich wie einen deiner Tagelöhner.
20 Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon und fühlte Mitleid, und er eilte ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
21 Der Sohn aber sagte zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen.
22 Da sagte der Vater zu seinen Knechten: Schnell, bringt das beste Gewand und zieht es ihm an! Und gebt ihm einen Ring an die Hand und Schuhe für die Füsse.
23 Holt das Mastkalb, schlachtet es, und wir wollen essen und fröhlich sein!
24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an zu feiern.

Im Gleichnisfenster der Stadtkirche sehen wir insgesamt sieben Gleichnisse, alle nach dem Lukas-Evangelium. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist eine der bekanntesten Geschichten aus dem Neuen Testament, beliebt in der bildenden Kunst, vor allem das ausschweifende Leben dieses Sohnes, das oft moralisierend, manchmal anzüglich gezeigt wird – und ergreifend in der berühmten Darstellung Rembrandts von seiner Rückkehr zum Vater.

Die drei übereinanderliegenden Szenen mit der Geschichte vom verlorenen Sohn nach Lukas 15,11-24) im Gleichnisfenster von Felix Hoffmann

Was hat der Künstler Felix Hoffmann daraus gemacht? – Etwas formal Einzigartiges innerhalb seiner sechs Chorfenster hier in der Stadtkirche. Wohl gibt es mehrere Darstellungen über zwei Panneaux, so im Schöpfungsfenster und bei einzelnen herausragenden Figuren: Mose, die sechs Propheten – und dann natürlich der Auferstandene. Als einzige Darstellung einer Geschichte umfasst das Gleichnis vom verlorenen Sohn drei Szenen, gestaltet wie Bilder eines Comics oder drei sogenannte «Stills»: Standbilder, Einzelbildaufnahmen von Filmszenen, die eine kontinuierliche Bildfolge ergeben. Von unten nach oben sehen wir Beginn, Tiefpunkt und das gute Ende dieser Geschichte. Zuunterst das stolze Ausreiten des Sohnes, neben ihm sein gramerfüllter alter Vater. Bereits die Leserichtung dieser Szene – von rechts nach links, also gleichsam ‹gegen den Strich› der traditionellen Bildleserichtung – und das gleichzeitige Anstossen von Mann und Pferd am linken Bildrand antizipieren, was geschehen wird: dass dieser Sohn mit seinen Plänen alsbald gegen eine Wand laufen wird. Es scheint gar, also ob sich das Pferd in seinem kreatürlichem Instinkt gegen dieses Davonreiten wehren würde: Es wendet den Kopf aufbegehrend nach oben und nach hinten, aber noch hält der jugendliche Reiter die Zügel fest in den Händen und treibt es weiter, in ein fernes Land. Dort verprasst der Sohn sein Vermögen, das auch sein Erbe ist, und gerät in immer tiefere Not bis zum bevorstehenden Hungertod. Schliesslich kommt die bittere Einsicht – und dann seine demütigende und demütige Umkehr: «Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater.» Es ist auch die Wende, denn dieser erwartet den buchstäblich nackten, gebrochenen, auch sichtlich gealterten Sohn voller Freude.

Drei Szenen übereinander, eine Besonderheit innerhalb dieser sechs Fenster: War es die Entscheidung des Künstlers? Lag dieses Gleichnis Felix Hoffmann besonders am Herzen? War ihm gerade dieses besonders wichtig, als eine Art existentielle «conditio humana»? Wir wissen es nicht, da Unterlagen dazu fehlen.

Während der Vorbereitungen für diesen Text, den ich am 7. April 2017 im Rahmen der dreiteiligen Reihe von «Fritig am föifi» in der Stadtkirche Aarau vorzutragen hatte, erreichte mich die Nachricht, dass Sabina Theiler am 14. März nach langer schwerer Krankheit mit 49 Jahren viel zu früh verstorben ist. Sie hinterlässt ihre zehnjährige Tochter Selina. Sabine war dieser Kirchgemeinde durch ihre Jahre in Aarau verbunden, Selina wurde in dieser Kirche getauft. Ich weiss, dass etliche von den Anwesenden während dieser drei «Fritig am Föifi»-Veranstaltungen Sabine ebenfalls gekannt haben. 2008 kam sie, die Musik so liebte, auch in die Kantorei der Stadtkirche, wo wir uns kennen gelernt haben. Daran erinnere ich mich, wie wenn es gestern gewesen wäre: ein erster Händedruck, ihre warmen wachen Augen, ihre liebevolle Präsenz. Es war Freundschaft auf den ersten Blick. Und wir haben hier in dieser Kirche gemeinsam gesungen.

Wir waren befreundet. Sie war einer der wenigen mir wirklich nahen Menschen. Die Verbindung war immer da, auch wenn wir uns in den letzten Jahren umständehalber nur selten sehen konnten. Sabine vereinte in sich Hochsensibilität und Bescheidenheit, unbedingte Vertrauenswürdigkeit, Grosszügigkeit und eine innere Wahrhaftigkeit von der Art, die mit dem alten Wort «Lauterkeit» am treffendsten umschrieben ist. Sie verfügte über einen untrüglichen Sinn für Klarheit und für das wirklich Wesentliche, für die Essenz von allem, von Menschen und von Dingen. Und sie war auf unvergleichliche Weise zur Freundschaft begabt. – Darüber hinaus war die studierte Germanistin auch die Lektorin meiner Texte. Ihre Sprachsensiblität und Sprachpräzision war aussergewöhnlich, ihr scharfes Auge und ihr Qualitätsbewusstsein in der Sache unbestechlich – im Zusammenspiel mit ihrer humanistischen Bildung eine ideale Lektorin. Das intensive Zusammenarbeiten hat von Anfang an und auf der Stelle funktioniert. Wir schmiedeten schon bald nach dem Kennenlernen Pläne für eine weitergehende berufliche Zusammenarbeit im Textbereich, sobald ihre damals noch sehr kleine Tochter etwas grösser wäre – doch dann kamen private Veränderungen, ihr Umzug zurück nach Zürich in die Nähe ihrer Angehörigen und ihre schwere Erkrankung im Jahre 2011. Unsere Pläne mussten immer wieder warten – und sind nun ganz hinfällig geworden. «StrasserTheiler», so der Name unseres Projekts, wird es nie geben. Sabine ist auf unbegreifliche Weise nicht mehr da unersetzbar, und ich trage inzwischen einen anderen Familiennamen.

So haben sich auf ganz unerwartete und erschütternde Weise die Arbeit an diesem Text über diese Geschichte vom verlorenen Sohn und der Tod von Sabine vermischt. Und so war es mir ein grosses Bedürfnis, an der Veranstaltung vom 7. April auch darüber zu sprechen und diese Betrachtung dem Andenken an Sabine und ihren Angehörigen zu widmen.

Was könnte das Leben und der frühe Hinschied von Sabine mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn verbinden? Auf den ersten Blick gibt es kaum etwas, vor allem nichts, was in der untersten Bildszene zu sehen ist: dieser Sohn, jung, forsch, gedanken- und verantwortungslos, egoistisch, nur auf seinen materiellen Vorteil und sein unmittelbares Vergnügen bedacht – ohne Rücksicht auf Umwelt, auf seine Familie und vor allem auf seinen Vater – völlig anders als Sabine, die einfach lebte und in keiner Weise am vordergründig Materiellen hing; der ihre Tochter und ihre Familie so wichtig waren.

Bei einem unserer letzten Treffen, die nach dem Ausbruch ihrer Krankheit so selten wie kostbar wurden, auf einem Sofa im Restaurant «Felix» am Zürcher Bellevue, sprachen wir lange über das biblische Bild vom Schmelzofen – als Ort und Mittel der Läuterung. Über die Erfahrung von sehr tiefem langanhaltendem Leiden, von Schmerzen und Verzweiflung, und wie solch existentieller Erfahrung ein Sinn abzuringen wäre, wie sich dieser Sinn ergründen oder wenigstens erahnen liesse, selbst im Wissen, dass ein Menschenherz in diesem irdischen Leben nur ansatzweise zu erkennen vermag: «Denn jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht.» (1. Korinther 13,12)

Ein Schmelzofen läutert Edelmetalle, Silber und Gold. Gold, das Sabine als Symbol eines transzendenten Lichtes und Glanzes faszinierte und verzauberte, und das ohne diesen Prozess im Feuer nicht geläutert werden kann. Das Leiden als Mittel der persönlichen Läuterung – nicht als sinnloses Leiden, sondern als eines hin zu einer Tiefe, die ohne dieses Leiden nicht zu erlangen ist. Der Theologe Paul Tillich schrieb in seiner Religiösen Rede «In der Tiefe ist Wahrheit»: «Ob das Leiden von aussen auf uns zukommt und von uns als Weg zur Tiefe angenommen wird oder ob es von uns freiwillig als einziger Weg zu den tiefen Dingen gewählt wird, ob es der Weg der Demut oder der Weg der Auflehnung ist – der Weg läuft immer dem Weg entgegen, in dem wir vorher lebten und dachten.» Sabine hat den Leidensweg ihrer Krankheit nicht gewählt. Auch der Sohn im Gleichnis hat sich sein Leben ganz anders vorgestellt. Von seinem schrittweisen Abstieg haben wir in der Lesung gehört: Im fremden Land hat er zuerst in Saus und Braus gelebt, sein Vermögen verschleudert, restlos. Dann kam eine Hungersnot, und er geriet in immer grössere Not und in die schreckliche Lage, als Schweinehirt arbeiten zu müssen. Schliesslich wird es lebensbedrohlich, denn man will man ihm nicht einmal das Recht zugestehen, mit den Schweinen deren Futter – Schoten, eine Pflanzenart – zu teilen. Der physische Hungertod steht bevor.

Es bedeutet für den Sohn aus reichem Haus, Verwöhnung und Fülle gewohnt, nicht nur die nackte materielle und physische Not, sondern wohl noch mehr dies: Tiefe Scham, Verzweiflung, Angst, Demütigung, Einsamkeit und das Eingeständnis des persönlichen Versagens auf der ganzen Linie, eines Versagens, das so tief ist wie der auffahrende Stolz im ersten Bild gross war. Er ist zuunterst unten, bei den Schweinen, hungernd und fast nackt. Und dort leidet er zutiefst, auf allen Ebenen.

In ebendieser Situation, auf dem absoluten Tiefpunkt, zeigt ihn Felix Hoffmann in der mittleren, klar zweigeteilten Szene: rechts die wohlgenährten, ja fetten Schweine, die sich am Futter im gefüllten Trog gütlich tun, links, weit unter ihnen der abgemagerte, fast nackte, am Boden sitzende Mann, der sehnsüchtig zu den Schweinen und ihrem Futter hinübersieht. Eine im biblischen Kontext unfassbare, da doppelt demütigende Lage, denn Schweine galten (und gelten) den Juden als unreine Tiere. Dieser Mann lebte im fremden Land unter Nichtjuden und musste sich diesen nun gar als Schweinehirt verdingen, also in nächster, auch körperlicher Nähe zu diesen Tieren, und schliesslich war er gezwungen, selbst deren Futter essen zu müssen – und nicht einmal dies wurde ihm erlaubt. Das Wohlergehen der Schweine war wichtiger als das Leben eines dort Fremden, eines Juden. Ein Verlorener auch im religiösen Sinn. Diesen gesellschaftlichen, finanziellen, moralischen, persönlichen und religiösen Abstieg und den Tiefpunkt, der hier so drastisch dargestellt ist, könnte man auch als Schmelzofen deuten, als Unglück, als tiefste Verzweiflung und unermessliches Leiden, das dieser Sohn durchleben und durchstehen muss – und das er so in keiner Weise geplant hatte. Und doch ist auch er gezwungen, diesen Weg und das Leiden schliesslich anzunehmen, als, um wieder mit Paul Tillich zu sprechen «Weg zu der Tiefe Gottes, als geistlichen Weg, als Weg zur Wahrheit.» Erst dieser existentielle Tiefpunkt ermöglicht die Umkehr und die Wende, die auch Einsicht bedeutet: «Da ging er in sich», mit allen Konsequenzen. «Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater.»

Zum letzten Mal getroffen haben Sabine und ich uns am 21. August letzten Jahres: Sie hatte mich auf ihre unvergleichlich stilvolle Art ins Museum Rietberg eingeladen, während der Ausstellung «Gärten der Welt». Wir hatten beide Ostasiatische Kunstgeschichte studiert, und seither war dieses Museum eine Art zweite Heimat für uns. Ein wunderschöner spätsommerlicher Sonntag, zuerst eine Führung durch die Ausstellung vom Museumsdirektor, den wir beide kannten, dann ein ausgiebiger britischer «Afternoon Tea» im Restaurant. Eine Unbeschwertheit und zauberhafte Leichtigkeit war in diesen Stunden, es wurde viel geredet, erzählt und gelacht– und doch: Sabine erwähnte fast beiläufig, dass sie sich der nächsten Chemotherapie unterziehen müsse. Sie, die so Diskrete, sprach auch diesmal kaum über ihre Krankheit, aber wie schon seit längerem zeugten die schmerzlichen Linien in ihrem schönen, feingeschnittenen Gesicht von ihrem Leiden. Wir verabschiedeten uns beim Bahnhof Enge, mit einer innigen Umarmung, lachend und glücklich über den schönen Nachmittag, einander noch lange zuwinkend. – Wir wussten beide nicht, dass es das letzte Mal sein würde, dass wir uns sahen. Der Bahnhof Enge, für Zürcher selbstverständlich «i de Ängi» – ein sehr symbolträchtiger Name, das erkenne ich erst jetzt. Auch der verlorene Sohn ist zunehmend in die Enge geraten, in eine immer grössere Ausweglosigkeit. Er hat alles verloren, ist buchstäblich nackt und im Dreck liegend, dem auch physischen Ende nahe. Eigentlich in einer persönlichen Hölle, die er sich weitgehend selbst zuzuschreiben hat.

Gärten – Paradiesgärten. Auch und gerade für den Künstler Felix Hoffmann, den so Natur- und Tierliebenden ein zentrales Motiv, zu sehen hier im prachtvollen Schöpfungsfenster oder in seinem wunderschönen Buch «Das Hohe Lied». In der Ausstellung im Museum Rietberg unterhielten Sabine und ich uns lange über das Motiv des blühenden Gartens, denn ich war auf der Suche nach einer passenden bildlichen Darstellung für einen geplanten Text. Durch die Ausstellung schweifend, hielten wir Ausschau danach, und wie immer waren Sabines Erwägungen bei jedem möglichen Bild so hochpräzis wie einfühlsam, jederzeit auf den Kern, auf die Essenz bezogen. Es ging um das biblische Bild vom «bewässerten Garten» und «einer Wasserquelle, deren Wasser nicht trügen», zu einem Text über Jesaja 58,11 – und es ist merkwürdig, dass ich diesen Text bis heute nicht schreiben konnte, obschon sich das genau passende Bild unmittelbar nach diesem Nachmittag fand. Gärten – GartenparadiesParadiesgarten – Paradies. Paradies bedeutet unermessliches Glück und unermessliche Fülle. Fülle und Glück – das erwartet auch den heimkehrenden Sohn: Der überglückliche Vater lässt nach seiner Rückkehr ein Fest ausrichten, das Mastkalb schlachten; er lässt ihm das beste Gewand bringen und Schuhe für seine nackten Füsse, einen Ring für seine Hand. Ein Fest. Feiern, Fülle und Freude. Grosses Glück.

Die Geschichte vom verlorenen Sohn ist allerdings nicht einfach eine erbauliche Geschichte mit einem glücklichen Ende, die uns als moralisches Beispiel für den intelligenten und verantwortungsvollen Umgang mit Geld sensibilisieren soll; die zeigt, wie es herauskommt, wenn ein Junger, Unerfahrener es besser zu wissen glaubt, und welches Glück es bedeutet, einen verzeihenden Vater zu haben, der einen trotz allem freudig wieder bei sich aufnimmt.

Diese Geschichte ist ein Gleichnis – und weist somit über sich hinaus. Es geht hier auch um Leben und Tod, um die letzten Dinge – und um die letzte Tiefe, die Gott heisst: «Der Name dieser unendlichen Tiefe und dieses unerschöpflichen Grundes alles Seins ist Gott.» und: «Der Augenblick, in dem wir die letzte Tiefe unseres Lebens erreichen, ist der Augenblick, in dem wir die Freude erfahren, die Ewigkeit in sich hat, die Hoffnung, die nicht zerstört werden kann, und die Wahrheit, auf die Leben und Tod gegründet ist. Denn in der Tiefe ist Wahrheit, und in der Tiefe ist Hoffnung, und in der Tiefe ist Freude.» Nochmals Paul Tillich.

Karfreitag war nahe – und dann feierten wir Ostern und Auferstehung. Diese Auferstehung sehen wir auch im zentralen Christusfenster im Chor der Stadtkirche. Man könnte das Gleichnis vom verlorenen Sohn auch so lesen: als «nicht von dieser Welt». In Vers 24 sagt der Vater: «Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden.» Liesse sich dies nicht auch als tröstliche Zuversicht deuten, dass nach dem physischen Tod nicht einfach ‹nichts› ist – sondern dass wir, wir alle, dann heimkehren dürfen, nackt und bedürftig; dass auch wir tot sein und wieder lebendig werden? Heimkehren zu einem Vater, der uns liebevoll erwartet und in seinen grossen wärmenden Mantel hüllt, so wie ihn Felix Hoffmann zeigt – ein Vater, der glücklich ist, uns zu sehen und uns wieder bei sich zu wissen? – In der obersten Szene im Gleichnisfenster sehen wir, kaum zufällig, eine Darstellung des wohl berühmtesten Gleichnisses: das vom verlorenen Schaf. Das Bild vom guten Hirten, der kein einziges seiner Schafe zugrunde gehen lässt. Ein anderes Bild für dasselbe.

Heimgehen zum Vater nicht nur als überaus glückliche Wende in einer höchst eindrücklichen, zunächst durchaus irdisch zu lesenden Geschichte – sondern auch als tröstliche Zuversicht für das Unausweichliche, das uns alle – ALLE! – eines näheren oder ferneren Tages ereilen wird. So wie manchmal in Todesanzeigen zu lesen ist: dass der oder die Verstorbene zum Schöpfer, zum himmlischen Vater «heimgegangen» sei.

Dass Sabina Theiler nach ihrem langen Leiden und ihrem Hinschied beim himmlischen Vater diese offenen Arme, diesen umhüllenden warmen Mantel gefunden haben möge, sei ihr, ihrer Tochter und ihren Angehörigen von ganzem Herzen gewünscht! – Dass auch wir dereinst diese liebenden Arme finden mögen, ist unsere Zuversicht, und darauf vertrauen wir. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Und so möchte ich schliessen mit Versen aus Psalm 23 – es ist der wohl bekannteste Psalm, und auch hier steht das Bild vom guten Hirten im Zentrum:

«Der HERR ist mein Hirte, mir mangelt nichts, –

Wandere ich auch im finsteren Tal,
fürchte ich kein Unheil,
denn du bist bei mir,
dein Stecken und ein Stab
sie trösten mich. –

Güte und Gnade werden mir folgen
all meine Tage
Und ich werde zurückkehren ins Haus des HERRN
mein Leben lang.»

Diesen Text widme ich dem Andenken an meine liebe Freundin Sabina Theiler (28. Oktober 1968 – 14. März 2017) und ihrer Tochter Selina.

Dieser Text basiert auf dem dritten Referat vom 7. April 2017 in der Stadtkirche Aarau im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Fritig am Föifi».

Dazu die Lesung der Bibelstelle Lukas 15,11-24 durch den Sprecher Reinhold Bruder und Improvisationen auf der Chororgel vom Organisten Johannes Fankhauser.

© Barbara Tobler, Aarau

  1. Juni 2017